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„Hier spricht der 10. Mai 2012.“

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rainald goetz
© Insa Kohler 2012

Rainald Goetz unterrichtet im Sommersemester 2012 im Rahmen der Heiner-Müller-Gastprofessur an der Freien Universität Berlin. Er leitet eine Literarische Werkstatt für Nachwuchsschriftsteller. Auch Litaffin-Autoren gehören zu seinen Studierenden.

Er trägt einen Anzug. Weinrote Krawatte und dunkelblauer Schal. Er dreht uns den Rücken zu und steht auf einem Stuhl. Rainald Goetz schreibt an die Tafel: „Leben und“. Dann steigt er vom Stuhl, tritt ein paar Schritte zurück und betrachtet sein bisheriges Werk aus der Ferne. Zwei-, dreimal wiederholt sich dieser Vorgang, erst dann scheint er zufrieden. An der Tafel steht jetzt:RTEmagicC tafelgoetz.jpg „Hier spricht der 10. Mai 2012.“

Es ist der 10. Mai 2012. Rainald Goetz hält seine Antrittsvorlesung an der Freien Universität Berlin. Gekührt mit dem Berliner Literaturpreis 2012, ist er der diesjährige Heiner-Müller-Gastprofessor für deutschsprachige Poetik und leitet in diesem Sommersemester eine Autorenwerkstatt für Berliner Studierende.

Die übliche Geräuschkulisse aus Stimmen und Zeitungsgeraschel hallt von den Wänden wider. Ab und an sehe ich, wie jemand – möglichst heimlich – ein Foto mit seinem Smartphone macht. Rainald Goetz sitzt in der ersten Reihe, neben Brillen- und Anzugträgern. Einer von ihnen steht auf. „Hören Sie mich?“, fragt er ins Mikrofon. „Neeeeeeein“, rufen 500 Stimmen zurück. Die Technik funktioniert noch nicht. Zuspätgekommene sitzen als Feueralarmhindernisse auf den Treppenstufen. Jetzt ist der Hörsaal wirklich voll. Nach der Veranstaltung gebe es draußen gekühltes Bier, sagt der Vorredner. Applaus. Jetzt ist Rainald Goetz dran.

Er hält eine kleine Digitalkamera in der Hand, als er nach vorne tritt. Bevor er etwas sagt, macht er zwei Fotos von seinen Zuhörern. Ich grinse, als er sich in meine Richtung dreht. Dann packe ich meine Kamera aus und schieße zurück. Komisches Gefühl. Ich fotografiere meine Dozenten sonst nie. „Hallo Berlin!“, ruft Rainald Goetz und lässt seine Hände auf das Rednerpult krachen. „Hier spricht der 10. Mai 2012.“

Goetz nimmt den Begriff „Vorlesung“ wörtlich. Er liest vor. Schnell, energisch, dennoch laut und deutlich. Ab und zu schaut er auf von dem Stapel Zettel vor ihm, aber nur ganz kurz. Sein Kopf bewegt sich dabei schnell und abrupt. Fast wie bei einer Taube. Er gestikuliert, hebt die Hände und lässt sie wieder auf das Rednerpult fallen. „Telefon? Ein Anruf.“ Goetz unterbricht seinen Vortrag kurz, als es irgendwo klingelt.

„Schreiben heißt veröffentlichen. Zuerst vor sich selbst.“ Goetz rüttelt am Mikrofon. Wenn man veröffentlicht, sieht man die Worte vor sich. „Dauernd liest der Schreiber das Geschriebene. Was steht da? Was heißt das?“ Die Grunderfahrung des Schreibens ist dabei, dass das, was da steht, NICHT das heißt, was man sagen wollte. Der Text sagt, was er will.

„Wie schult man seine Menschenkenntnis?“, fragt Rainald Goetz und sagt dann: „Der essentielle Grundvorgang ist Mitleid. […] Am Beispiel schult das Lesen den Leser. Am Beispiel des anderen Menschen. Am Vorgang der Hineinversetzung… Mitgefühl ist die große, frohe Botschaft der Literatur.“ Lesen und Beobachten. Dazu passt auch die erste Hausaufgabe:

  1. Schreibe den Anfang eines Textes, drei, vier Sätze, nicht mehr als eine halbe Seite, der folgende Situation erzählt: Der Ich-Erzähler, selbst Schriftsteller, trifft in einem angesagten Kleiderladen in Berlin Mitte einen anderen Schriftsteller, dessen Portrait aus der Erzählung dieser Begegnung entwickelt wird. Das wäre noch ganz einfach, aber der entscheidene Punkt, der dazu kommt, ist der Formauftrag: Schreibe diese drei Sätze so, dass sie absolut frei sind, von jedem Oberton und Unterton, komplett subtextfrei. Schwierige Aufgabe.
  2. Einfacher. Mitbringen: zwei Texte, die aktuell in den letzten zwei Tagen ein Leseerlebnis gewesen sind, egal, woher sie kommen und wo sie als Text rezipiert wurden… Herausgefunden werden soll, welchen Welterfassungsertrag der speziell vorgelesene Text liefert.

Goetz schließt den Vortrag mit dem Motto der Vorlesung. Es lautet: „Immer neu loslegen wie neu.“  Es sind seine Selbstanfeuerungsbeschwörungen. Schönes Wort.

RTEmagicC 42281.jpg „Hier spricht der 10. Mai 2012.“Im September 2012 erscheint der neue Roman von Rainald Goetz bei Suhrkamp: “Johann Holtrop”

Text von: Insa Kohler (Litaffin.de)

Die Aufnahme wurde freundlicherweise zur Verfügung gestellt vom Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, FU Berlin.

Begrüßung: Georg Witte, Peter-Szondi-Institut, FU Berlin

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