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Artists in Residence

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AiR Artists in Residence

Kennt ihr die Dieselhalle? Im Ohr klingt sie nach Schwerölindustrie, Industrialisierung, Malochern, öligen Gesichtern. Motorengeräusche. Arbeiter in Latzhosen erreichen ihre Rente nicht und sterben mit wulstigen Händen. Das alles klingt an, aber ist grundlegend falsch. Früher verbarg sich eventuell einmal Kleingewerbe in ihr, aber den Namen hat sie von der Rudolf-Diesel-Straße in der sie liegt. Der Boden der Halle ist grau, die Wände weiß gestrichen, doch das massive Mauerwerk strahlt durch die filigrane Farbe. Kulturelle Neuprogrammierung im Spätkapitalismus. Wir sitzen auf einer von vier Inseln. Es wird gelesen. Auf allen Inseln gleichzeitig.

Ein paar Quadratmeter Kunstrasen

Das ist sie: Die Lesung der Artists in Residence des Prosanova 2017. Zum ersten Mal in seiner 12-jährigen Geschichte hat das Festival auch ein Förderprogramm für junge Literatur zum Leben erweckt. Programme zur Literatur der Jüngsten (Stichwort: Schulprogramm) gab’s bereits beim letzten Mal. Aus unzähligen Einsendungen (unzählig, weil niemand die Zahlen kennt), wurden acht Personen ausgewählt, die jetzt jeweils zu zweit eine dieser Insel bespielen. Das heißt: Ein paar Quadratmeter Kunstrasen, Sitzkissen auf dem Boden und ein paar formschöne Holzstühle für den richten Gartenlook. Dann wird zweimal gelesen und routiert. Wir erheben uns von einer Insel und ziehen zur nächsten. Die Auswahl der Lesenden ist ein Musterbeispiel für Ausgewogenheit im Literaturbetrieb. Von den acht Eingeladenen sind vier Männer, vier Frauen, studieren zwei am Literaturinstitut Leipzig, zwei in Hildesheim. Man hört während der Lesungen ihre Sozialisationsregionen heraus. Deutschland, Österreich, Schweiz. Hätten nur noch Banatschwaben gefehlt. Die Scheinwerfer brennen auf uns wie auf einer Theaterbühne, verleihen den vier Insel einen performativen Charme, der die Zuhörer zu Mittätern der Lesung macht. Während man den Geschichten auf seinem Eiland lauscht, dringen zwangsläufig auch die Stimmen der anderen Inseln herein. Mit dem rechten Ohr lauschen ich der einen Lesungen, mit dem linken des restlichen drei. Hätte man nicht besser vier Archipellesungen veranstalten sollen? Ich schaue zu einem dieser Lichtkegel und betrachte wie Tabea Schreiner ließt. Konzentriert schauen ihr die Menschen, die Parallelen zu einem Selbsthilfekreis sind nicht zu verleugnen. Geschichten werden gelesen. Geschichten, die man manchmal im Privatleben der Lesenden verorten mag. Autobiografisch. Wie aus dem echten Leben. Das sind anbahnende Liebeleien mit osteuropäischem Hintergrund bei Bettina Wilpert, Winterferien bei Marcella Melien.

Die Sprache der Insulaner

Doch abseits platter Zwei-Wort-Charakterisierungen haben die Texte nichts gemein, außer: sie finden hier in der Dieselhalle statt, es wird der eigensinnige Versuch einer Synchronisation vollzogen. Acht Lesungen, die gleichzeitig beginnen und gleichzeitig enden sollen. Anfangs wird geklatscht, später wird Zuspruch tonlos vermittelt. Wir strecken die Handgelenke in die Höhe und schütteln sie, Applaus in Gebärdensprache. Die Sprache der Insulaner. So muss es sich also anfühlen auf einer griechischen Insel aufzuwachsen. Mit Ausnahme von Kreta. Eine Insel so groß, sie könnte ein Königreich sein. Die restlichen Insel müssen sie wie wir jetzt fühlen. Man schaut ab und zu verlegen zu seinen Nachbarn, hört undeutlich ihre Gedichte und Anekdoten. Bald kennt man ihre Marotten, ihre Mentalitäten. Bei uns in der Dieselhalle gibt es zwei Inseln, die immer länger lesen als der Rest. Schon nach dem zweiten Durchgang kennen wir die letzten Sätze ihrer Geschichten, soweit sie über das Meer des grauen Bodens zu uns gedrungen sind. Eine Überlieferung. Ein Gong ertönt und man darf wechseln. Island-Hopping. Wollen wir den Anfang zur Geschichte hören, dessen Ende wir schon kennen? Aufgesprungen und bloß über keine Personen gestolpert. Zwischen den Inseln wabern ständen sich zwei Kameramänner, sowie eine Fotografin und einem Fotografen. Besser als jeder Regierungsgipfel werden die einzelnen Fraktionen beleuchtet, teilweise wirft der Kamera seine Schatten und raubt den Lesenden ihr Licht. Timo Brandt muss schmunzeln, als wieder einmal ein Schatten auf seinem Textblatt erscheint. Die Zuhörnden sind erstarrt und bilden einen spontanen Laokoon. Hinter den verschiedenen Körpern muss eine Typologie stecken, die ich gerade nicht greifen kann. Sie hat etwas damit zu tun, ob man auf dem Boden oder auf einem Stuhl sitzt, ob die Beine eng oder in einem Winkel übereinander geschlagen sind, ob die Arme den Kopf stützen oder am Stuhl baumeln, im Schoss weilen, am Boden kleben. Es darf gelacht werden, aber die Gelegenheiten sind rar. Johannes Koch hat kurze Texte mit Pointen geschrieben, absurde Beschreibungen, die nicht der Realität entsprechen. Können. Dürfen. Aber trotzdem real genug, als dass sie nicht in einem krassen Unfug enden. Sein Gegenüber Henrik Pohl angelt ganz nah an der Realitätsbehauptung. Bei ihm bleiben mir die Wörter kleben: Mutter – Kaserne – Talib – Aargau.

Artists in Residence. Es liegt Meeresrauschen in der Luft. Am Eingang wuselt ein Aufpasser. Wie vor einem großen Kampf.

[toggler title=”Bettina Wilpert”]

Bettina Wilpert, geboren 1989, aufgewachsen bei Altötting. Sie studierte Kulturwissenschaft, Anglistik/Amerikanistik und Literarisches Schreiben in Potsdam, Berlin und Leipzig. Sie war u.a. Finalistin des 23. Open Mike und Stipendiatin des 20. Klagenfurter Literaturkurses. Veröffentlichungen zuletzt in der Zeitschrift „Outside the Box“ und in den Büchern Destruktive Charaktere und „Damaged Goods“. Sie arbeitet als Trainerin für Deutsch als Fremdsprache und lebt in Leipzig. [/toggler] [toggler title=”Henrik Pohl”]

Henrik Pohl, *1988 in Lemgo. Studium der Cultural Studies in Berlin und Istanbul. Seit 2015 am Literaturinstitut in Hildesheim. Schreibt im Kollektiv Nobiling. War u.a. Stipendiat der Werkstatt für junge Literatur, der Werkstattbühne am Leipziger Lofft-Theater und des Literaturkollegs im Rahmen der Raniser Wortwelten. Veröffentlichungen zuletzt in: Entwürfe#82, Anthologie zum Wortlaut’16, PS#2 – Politisches Schreiben / Anmerkungen zum Literaturbetrieb.

[/toggler] [toggler title=”Johannes Koch”]

Johannes Koch wurde 1989 geboren. Nach seinem frühen Rauswurf bei den Vengaboys hat er Linguistik studiert. Seit 2015 am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften. Er schreibt im Kollektiv Nobiling.

[/toggler] [toggler title=”Kristin Höller”]

Kristin Höller, geboren 1996, aufgewachsen in Bonn, studiert Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften in Dresden. Freie Mitarbeit bei verschiedenen Zeitschriften, unter anderem bei jetzt.de, dem jungen Online-Magazin der Süddeutschen Zeitung. 2016 Finalistin des 24. Open Mike, außerdem Preisträgerin beim 10. Poet_bewegt, sowie beim 31.Treffen junger Autoren.

[/toggler] [toggler title=”Marcella Melien”]

Marcella Melien, 1992 in Wiesbaden geboren, hat 2014 den Bachelor Buchhandel / Verlagswirtschaft in Leipzig abgeschlossen. Seitdem studiert sie in Hildesheim, erst zwei Semester im Bachelor, danach im Master Literarisches Schreiben. Sie war mehrfach Preisträgerin beim Jungen Literaturforum Hessen-Thüringen und einmal beim Treffen Junger Autoren. 2015 schrieb sie als Hospitantin für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 2016 verfilmte sie als Drehbuchautorin, Produzentin und Regisseurin ihre Kurzgeschichte „Auftauchen“.

[/toggler] [toggler title=”Simon Sailer”]

Simon Sailer lebt als freier Schriftsteller in Wien. Zudem organisiert er im Rahmen des von ihm 2011 mitgegründeten Vereins zur Förderung Kritischer Theater- Film- und Medienwissenschaft Buchprojekte, Workshops und Vorträge. Er studierte Philosophie an der Universität Wien und der Sorbonne Paris sowie Art and Science an der Universität für Angewandte Kunst Wien.

[/toggler] [toggler title=”Tabea Steiner”]

Tabea Steiner, 1981, studierte Germanistik und alte Geschichte in Bern. Aufgewachsen auf einem Bauernhof in der Ostschweiz, lebt sie heute in Zürich und arbeitet als Veranstalterin von Literaturfestivals und an ihrem ersten Roman. 

Für ihre Prosa erhielt sie 2009 den Literatur-Förderpreis der IBK zugesprochen und nahm 2011 an der Autorenwerkstatt am LCB teil. Den Sommer 2014 verbrachte sie als Artist in Residence der Schweizerischen Städtekonferenz in Genua.

[/toggler] [toggler title=”Timo Brandt”]

Timo Brandt wurde 1992 in Düsseldorf geboren und wuchs in Hamburg auf. Seit 2014 Studium am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien; seit 2015 Mitherausgeber der JENNY Literaturzeitschrift; seit 2016 Rezensent auf Fixpoetry.com. Veröffentlichungen u.a. in Bella Triste, STILL, Metamorphosen, Das Gedicht, Seitenstechen und einigen Anthologien.

Website: lyrikpoemversgedicht.wordpress.com

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