Am Anfang steht ein Bekenntnis der Schriftstellerin Kathrin Röggla: Der aufkommende Theoriemix Ende der 80er Jahre habe ihr die Literaturwissenschaft verhagelt. Obwohl die Kritische Theorie noch Einfluss besaß, setzte das ein, was Wolfgang Ullrich Theorieprotestantismus nennt. Statt einer einzigen wissenschaftlich-philosophischen Strömung zu folgen, sie zu verteidigen oder zu verteufeln, kann man sich je nach Situation das richtige Theorem herauspicken. Das Zweifeln wurde komplexer. Im Fahrwasser des disruptiven Postrukturalismus konnte man plötzlich Luhmann neben Deleuze und Derrida stellen. Für was braucht man den Zweifel überhaupt noch, wenn alles bezweifelt wird?
Zweifel, an diesem Wort hängt ein dicker Rattenschwanz der abendländischen Denkens, er sei „das große Begriffstier der Philosophiegeschichte“, wie Röggla formuliert. Sie hat einen Essay verfasst, der diesem Zweifel ein wenig nachspürt, ein referenzschwangerer Text, der sich durch die deutschsprachige Literaturgeschichte frisst. Andrea Bartl, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bamberg, nähert sich im Gespräch dem Begriffstier von einer erkenntnistheoretischen und pädagogischen Warte. Braucht man die Skepsis in der Forschung, fragt Moderator José F. A. Oliver. „Man kann Erkenntnis nur erreichen, wenn man Dinge in den Zweifel zieht“, lautet Bartls Antwort, Descartes im 17. Jahrhundert hätte es nicht anders gesagt.
Zeitalter der post-faktischen Gutenberg-Galaxis
Röggla kämpft sich dann in ihrem Essay durch die Rationalität und Ohnmacht literarischer Motive, von Adelbert Stifters „Aus dem baierischen Wald“ (1866), über Restzweifler wie Thomas Bernhard bis zur deutschen Popavantgarde à la Rolf Dieter Brinkmann, Elfriede Jelinek oder Rainald Goetz. „Sie wussten alle schon, dass der Zweifel eine lächerliche, restbürgerliche Figur abgibt.“ Heute sei der Zweifel im Grunde abgeschafft und erscheine fast anachronistisch. Wirklich zweifeln kann man nur, wenn man an eine Wahrheit glaubt, die erschüttert werden kann. Georg Büchner zog aufgrund seines existenziellen Zivilisationszweifels noch einsam in den Wald; das macht heute kaum noch jemand.
Zweifel, das ist auch ein Begriff, der im Zeitalter der post-faktischen Gutenberg-Galaxis wieder in den Alltag Einzug gefunden hat. Zweifel am Staat, an der Politik an den Medien (welche Medien eigentlich?) Wobei sich im Gespräch der drei auch folgende Erkenntnis einstellt: Wer etwas anzweifelt, aber davor schon eine fest, präfigurierte Meinung habe, der könne eigentlich kein echter Zweifler sein. Auf einen Zweifel folgt eben nicht immer ein Entweder-Oder, Zweifeln ist nicht nur kühler Rationalismus. Zweifeln bedeutet alte Antworten zu hinterfragen und neue, kreative, mehrdimensionale Antworten zu finden. Literatur kann seinen kleinen Teil zu dieser Kreativität des Zweifelns beisteuern.
Die Veranstaltung fand am 17.02.2017 unter dem Titel „Literatur und Zweifel“ im Literaturhaus Stuttgart statt.