Snape diese Lit
„…hinabreichendes Verlusttrauma erfahren, wenn sie auf die
Chemikalien verzichten müss…“
Wäre Literatur Snapchat, dieses Fragment würde vom ersten Satz des imposanten Kapitels gegen Ende von David Foster Wallace Unendlicher Spaß noch übrig bleiben. Die durch das Leben und das Nachdenken darüber eingewanderten Verfinsterungsnuancen der Seele*, fachgerecht abgelichtet und snackbar proportioniert in 10 Sekunden.
An sich könnte man wohl keine größeren Gegenparts finden als die in sich verschlungene Welt aus Ausführlichkeit und Bedachtsamkeit, in der Literatur den Raum eröffnet, all das Lebensgeschehen bis in das hinterste Eck des unsäglich gerade noch Sagbaren darzustellen, und, demgegenüber: Snapchat. Schon ein Nebensatz da oft zu raumsprengend. Und wo gleichzeitig so manche Lesung im letzten Viertel bereits das Wasser im Glas schimmeln lässt, reicht hier schon ein Niesen, um das gerade gesehene Video noch einmal wiederholen zu müssen. Mit dem Gewissen, dass dies das letzte Mal sein wird, denn mehr als eine Wiederholung besitzt der Kosmos der Snaps ja nicht, bevor sie 24 Stunden später im ewigen NASA-und Hastenichtgesehen-Nirwana verschwindet**.
Vergleiche hierzu die Geduld von Papier. Nach all diesen antagonistischen Gegenüberstellungen vom anderen Ufer aus, drängt sich also die Frage auf: geht das überhaupt, derartig Konträres zu verbinden?
Welche Formate kann es geben? Die Dokumentation einer Lesung über Snapchat wird keine Lesung sein, nicht einmal ein Trailer, sondern die randomisiert in einen gerade vorgetragenen Satz gehaltene Ahnung dessen. Gleichzeitig hebt es den Satz aus seinem Kontext und bietet dem Betrachtenden die Fläche aus der Magie des Zufalls, etwas Neues entstehen zu lassen. Eben wie es der Alltag und wie man darin es so macht, ein Hingeworfensein von unvorhergesehenen Ereignissen, gleich dem wie Camus in seinem Sisyphos die Absurdität des Lebens darin erkennt, dass der inspirierende Ausgangsimspuls der größten Werke meist an irgendeiner Straßenlaterne geschieht. Auch das außerhalb der Literatur Liegende zwischen Alltag und After Hour kann gezeigt werden, der Backstagebereich hinter den jambisch rezitierten Elegien. So zwischen Smoothie und Abgefucktheit. Dass Goethe der größte Psychopath vor dem Herrn war, ist ja klar. Und der hat über Liebe geschrieben. Diese.
Aber auch die Melancholie der Lücke zwischen oberflächlicher Öffentlichkeit und intimen Gedankenbegehen, der verpasste Satz und Moment, die verdammte 11. Sekunde. Die Einsicht, dass gerade die Philosophen, die so flashten, eben jene waren, die so richtig zerfickten und im umgreifenden Sinne gefangen nahmen, da zwischen den beiden gesnapten Fragen des Autors Malte Abraham: Womit die schlechte Aufführung des eigenen Theatertextes verhindern? und Wodurch wird mein Leben einfacher? auf meine vorgefertigten Antworten: Zur Not durch Sex und auf keinen Fall durch Philosophie.
Ich habe hier viele Worte verwendet um der oben gestellten Frage, ob die Vereinigung dieser beiden Formate möglich ist, ihre rhetorische Natur zu verbergen. Bei einem Snap wäre dies nicht möglich gewesen. An dieser Stelle sei den Worten mein Dank gewiss. Denn natürlich muss die Antwort lauten: es muss. Formate sind dazu da zwangsverheiratet zu werden, einfach, weil es möglich ist. Um dann zu sehen, was daraus geworden ist. Eingebrockt hat uns das der Zeitgeist, und so manches unerwünschte Kind hat man seitdem am Hals, aber immerhin fragt es einen in dieser schnelllebigen Zeit nicht nach Unterhalt für seine eigenen Kinder. Weil, auch wenn es schwierig erscheint, man möchte im Credo des Kopfkindes von Thomas Mann (ein Autor, welcher neben Wallace ebenso einen Hang zu langen Sätzen teilt) der Welt pathetisch das Aschenbachsche: Trotzdem! entgegenskandieren.
*Weil er so großartig ist und mindestens noch einmal mehr irgendwo auf dieser Welt auftauchen sollte, der Satz in voller Länge: „Und was Ennet-House-Insassin Kate Gompert und ihre Depression anbelangte: Manche Psychiatriepatienten – sowie ein gewisser Prozentsatz von Menschen, die für ihr Wohlbefinden dermaßen chemikalienabhängig geworden sind, dass sie ein bis weit in die Kernbereiche der Seele hinabreichendes Verlusttrauma erfahren, wenn sie auf die Chemikalien verzichten müssen – manche Leute also wissen aus eigener Erfahrung, dass es mehr als nur eine Sorte der sogenannten Depression gibt.“
**Ein wenig möchte Hegel schmunzelnd sich am Haupthaar zwirbeln, hätte er seine dreistufige Aufhebung in dieser Plattform noch erleben dürfen. Das Aufheben des Moments im 10-sekündigen Video, das sich selbst nach 24 Stunden aufhebt und vernichtet, und durch diese temporäre, im eigentlichen Sinne wieder momenthafte Erscheinung auf die Qualität des Jetztoderniewieder hebt.